„Pünktlichkeit ist eine Frage des Respekts!“, sagt Viktor im Brustton seiner zweifelhaften Überzeugung. „Wer immer pünktlich ist, ist viel allein!“, meint dagegen Sofie, in ihrer lässigen Herangehensweise an dieses Thema. Fest stand, aus diesen beiden konnte kein glückliches Paar werden, und bereits in der ersten Kennenlern-Phase entzündete sich zwischen den beiden nicht das Feuer der Leidenschaft, sondern das Inferno der Dogmen-Unverträglichkeit.
Das Thema „Pünktlichkeit“ ist nämlich nicht zu unterschätzen, vor allem in Paarbeziehungen, aber auch in der Kindererziehung, und erst recht im Sozial- und Berufsleben.
Aber wer von den beiden hat nun recht? Und vor allem: Wie gehört es sich nun wirklich?!
„Von der Tugend zur Knechtschaft“…hätte man diesen Artikel ebenso gut nennen können. Was sind sie doch für ehrenwerte und wachsame Zeitgenossen, unsere Pünktlichkeits-Fanatiker…!? Wie der komplexbehaftete Verkehrspolizist, ständig darauf bedacht ihren Mitmenschen das Leben zur Hölle zu machen, und jede noch so kleine Pünktlichkeitsverletzung zu ahnden und sicherheitshalber total persönlich zu nehmen.
Ist ja auch ein zwingender Tatbestand, dass wenn jemand auf der Fahrt von A nach B einem Mega-Stau aufgrund eines verheerenden Verkehrsunfalls ausgeliefert ist, dass das pure göttliche Absicht war, um dem Wartenden auf diese Weise zu signalisieren, was für ein Schwammerl er in dessen Augen ist. – Ganz klar!
Und wenn der Fünfjährige mal wieder die Autoschlüssel im Kühlschrank zwischen ein paar Blättern Extra-Wurst versteckt, dann ist das selbstredend und eindeutig ein Verweis auf die Respektlosigkeit des Elternteils, der dringend zu einer Verabredung fahren müsste, aber ohne Autoschlüssel eben nicht wegkommt. Fußweg und Öffis ausgeschlossen!
Und selbstverständlich lässt man den schwerverletzten Kater, der sich nur noch mühevoll und blutüberströmt nach einer Marder-Attacke durch den Garten schleppt, einfach liegen zu Gunsten der Pünktlichkeit beim Bewerbungsgespräch. Denn „Zu-spät-kommen“, ist in dem Fall ganz offensichtlich ein Zeichen von mangelnder Wichtigkeit dem potenziell neuen Job gegenüber.
Aber vor allem ist es ein übler Angriff auf den Selbstwert eines Mannes, wenn sich die Frau deswegen zum Rendezvous verspätet, weil sie vor lauter Aufregung und Vorfreude auf das Date, das 25igste Kleid anprobiert, weil sie ihm unbedingt gefallen will! Die legt ja wirklich ganz augenfällig ein unfassbar respektloses Benehmen an den Tag. An seiner Stelle würde ich gleich gehen, wenn die auftaucht – am besten noch vorher, damit der Effekt dramatischer ist. (Kleiner Spoiler-Alarm: das war Sarkasmus!)
Oder die Seminartrainerin, die in ihrer Mittagspause an einem bis vor kurzem strahlendem Sommertag aus dem Gastgarten kommt um zu ihrem Seminar zurückzukehren, und von einem heftigen Sommergewitter so sehr überrascht wird, dass sie trotz Schutz-suchender Pausen bei den wenigen Unterstellmöglichkeiten am Weg zurück, klitschnass und verspätet zu ihrem Unterricht erscheint. Auch sie hatte sicherlich vor, damit der gesamten Gruppe nonverbal zu zeigen, wo der Hammer nicht hängt, und ihrer angeborenen Respektlosigkeit hemmungslos Ausdruck verliehen.
Ganz zu schweigen von dem Mann, der zu einem Geschäftsessen satte fünfunddreißig Minuten zu spät auftaucht – auf seinen zwischenzeitlichen Anruf gepfiffen hat – weil seine alte Mutter ihn in ihrer Not aufgrund eines bösen Sturzes anrief und um Hilfe bat. Nachdem er die Rettung verständigte, kurz zu ihr fuhr um nach dem Rechten zu sehen, und danach unmittelbar weiter zu seinem Termin düste, hat selbstverständlich auch er die Etikette der Pünktlichkeit total verletzt.
Ein Teenager, von seinen tugendreichen Eltern so gut zur Pünktlichkeit erzogen, dass er vor lauter Angst am ersten Tag zu spät zu seiner Lehrstelle zu kommen, einen Brief an seine Mutter hinterlässt, der lautete wie folgt: „Liebe Mama, konnte den Geschirrspüler in der Früh nicht mehr ausräumen, hab verschlafen und muss mich mega-beeilen, sonst komm i zu spät! Mach ich heut abend – Bussi, Sebastian“. Am Abend war Sebastian bereits tödlich verunglückt, weil er sich mit seinem Mofa so toll beeilte, dass er von einem anderen Autofahrer abgeschossen wurde. Noch am Vortag hielt ihm der Vater einen energischen Vortrag über die Wichtigkeit von Pünktlichkeit… Manchmal kann Pünktlichkeit tödlich sein.
Und dann sind da natürlich auch noch die südländischen Zeit-Typen, mit ihrem Zeiterfassungssystem a la Häuptling „Weiße-Feder“. Mit ihnen könnte man sich ebenso gut in alter Indianer-Manier verabreden… so ungefähr: „Wir treffen uns wenn der Mond voll und hell auf der Spitze des glühenden Berges steht“… Daumen mal Pie halt, und dennoch haben auch die so scheint´s sich immer getroffen und nie verpasst!
Im Süden von Europa und auch auf anderen Teilen von benachbarten Kontinenten, geht es zuweilen doch etwas salopper zu, was die Pünktlichkeit angeht. „Treffen wir uns morgen doch zum Abendessen beim Italiener um die Ecke“, reicht für viele in anderen Kulturen aus, und jeder weiß was, wann und wo. Auch so mancher Geschäftstermin wird an der Cote d´Azur oder auf Trinidad anders vereinbart, als in Berlin oder Kopenhagen. Und dennoch machen sie überall auf der Welt ihre Termine und ihre Erfolge, und leben ihre Beziehungen auch ohne, dass dort wie da, jemandem ein Zacken aus der nicht vorhandenen Krone fällt.
Pünktlichkeit hat also möglicherweise etwas mit Kultur und gesellschaftlichen Werten zu tun. Und ja, es muss ja nicht sein, dass man aus purer Nachlässigkeit und Achtlosigkeit immer jeden warten lässt. Und womöglich auch noch ohne dazwischen, oder wenn möglich davor, dem Wartenden Bescheid zu geben. Im Zeitalter des Mobiltelefons sollte das eine Selbstverständlichkeit sein.
Und dennoch…, wenn der Pünktlichkeitsanspruch so mancher Menschen zur Tortur von deren Termin-Partnern wird, wenn Unpünktlichkeit von der Tugend-Polizei automatisch und völlig unreflektiert zur Respektlosigkeit erklärt wird,… dann wird die vermeintliche und überbewertete Tugend ganz schnell zum Beziehungsfeindlichen Geschoss.
Aus der Perspektive der Pünktlichkeits-PolzistInnen klingt das dann ungefähr so:
Bei dem Fallbeispiel Stau wegen Verkehrsunfall: „Na dann hätte er eben rechtzeitig wegfahren müssen, Puffer-Fahrzeit einkalkulieren sollen, und sich zuvor über alternative Ausweichrouten informieren müssen! Wem Pünktlichkeit wichtig ist, der sorgt für alle Eventualitäten vor!“
Mein Kommentar dazu: Das kann nur jemand von sich geben, der in seinem Leben nicht wirklich was von Wert zu tun hat.
Fall: Autoschlüssel im Kühlschrank von Kind versteckt: „Ja, ja, die Kindererziehung von heute lässt ja allerorts zu Wünschen übrig…! Das kommt davon, weil die bei ihren Kindern nicht hart durchgreifen… unser Bub hätte sich das nie getraut!“
Mein Kommentar dazu: Das glaub ich gern, weil der traut sich vermutlich bis heute nicht ohne Erlaubnis auf´s Klo zu gehen.
Fall: Verletzter Kater und Bewerbungsgespräch: „Man muss halt Prioritäten setzen in seinem Leben, und offenbar ist eine Katze wichtiger als der neue Job!“
Mein Kommentar dazu: Ganz genau! Und das ist auch gut so. Bei so einem Tier-Hasser will sowieso keiner arbeiten müssen.
Fall: Rendezvous und das 25ste Kleid: „Also ich erwarte mir von einer Frau dass sie mich achtet und respektiert, und wenn mich eine bereits beim ersten oder zweiten Date warten lässt, dann hat das keine vernünftige Basis für die Zukunft!“
Mein Kommentar dazu: Da hat sich die Gute nochmal was erspart! Glücklicherweise sortieren sich manche Menschen von selbst aus. Und im übrigen: Der Mann der auf seine Auserkorene oder Angebetete nicht etwas warten kann, ohne gleich verschnupft zu sein, der ist sowieso für die Tonne!
Fall: Klatschnasse Seminartrainerin und Gewitter: „Wir finden das nicht o.k., dass du als Trainerin zu spät zum Seminar kommst, wo wir alle es geschafft haben, rechtzeitig hier zu sein. Schließlich haben wir bezahlt! Da muss man sich halt einen Schirm mitnehmen, … haben ja einige von uns auch geschafft!“
Mein Kommentar dazu: Die die sich am lautesten über so eine Lappalie beschweren, im Seminar gleich doppelt so hart ran-nehmen, damit klar ist, wo der Bartel den Most herholt! Wer so hoch thront, der fällt auch tief. Und wollen wir nicht vergessen, von so Klugscheißern ist schnell mal ein persönliches Manko ausgegraben und vorgeführt. Über die großzügigen Überziehungszeiten und Extra-Goodies hatten sie sich nie beschwert.
Fall: Geschäftsessen und Mutter´s Sturz: „Also Herr XY, so einen Faux pas haben wir uns von Ihnen nicht erwartet! Sie wussten doch wie wichtig das Meeting mit Kunde YZ ist, und eine dermaßen große Verspätung ist für unsere Kunden eine absolute Zumutung. Es tut uns ja sehr leid, dass ihre werte Frau Mutter gestürzt ist, aber sie hätte ja auch die Rettung direkt anrufen können, wäre die gleiche Zeit gewesen und sogar noch schneller!“
Mein Kommentar dazu: Kann nur einer über die Lippen bringen, der keine Mutter hatte und aus dem Reagenzglas stammt. – Unfassbar! Pünktlichkeit ist alles, aber auf die Menschlichkeit wird offenbar in diesem Unternehmen gepfiffen!?
Fall: Der pünktliche Lehrling: Mutter und Vater in der psychologischen Beratung nach der Bestattung ihres einzigen Sohnes: „Vielleicht wäre unser Sebastian noch am Leben, wenn wir ihn nicht immer damit getriezt hätten, … noch am Vortag haben wir ihm einen Vortrag gehalten, wie unzuverlässig und respektlos unpünktliche Menschen sind… das werden wir uns nie verzeihen… ich würde alles dafür geben, wenn ich ihn wieder zurückbekäme…wir wollten ihn doch nur zu einem anständigen Menschen erziehen…!“
Mein Kommentar: Kein Kommentar.
Dieser Artikel ist kein Aufruf für notorische Unpünktlichkeit, aber es ist auf jeden Fall ein Appell an alle Pünktlichkeits-Fanatiker und -Freunde, mit diesem Wahnsinn aufzuhören.
Wenn Dein persönlicher Selbstwert so weit unten rangiert, dass du das Zuspätkommen eines anderen gleich als Respektlosigkeit oder als anderes Übel auslegen musst, dann ist es mit Deinem Selbstwert von Natur aus nicht weit her, oder DU darfst deine eigen Dogmen-Hörigkeit mal überprüfen! Schon mal an eine Therapie oder an ein Anti-Pünktlichkeits-Coaching gedacht?!? Einfach um mal ein bisschen lockerer und entspannter zu werden, und der Welt nicht mit derlei Nichtigkeiten am Keks zu gehen.
Die Liebe sollte immer vor der Pünktlichkeit kommen!
Überhaupt sollte die Liebe immer vor allem kommen. – Tugend hin oder her!
Und wie eine meiner Seminarteilnehmerinnen mal zu sagen pflegte:
„Ich wäre ja pünktlich gewesen, aber mein Parkplatz war zu spät!“ ☺
Herzlichst, Deine Claudia Lang